Rudi
Wir sitzen auf einer Bank an einem Waldweg. Das kleine Flüsschen plätschert vor sich hin. Die Sonne scheint uns ins Gesicht, ein schöner Frühlingstag.
Spaziergänger gehen den Weg entlang. Da taucht er auf: Rudi. Es steht auf seinem Halsband wie er heißt. Aber es wäre auch sehr schwer gewesen, es zu überhören. Denn am anderen Ende der Leine befand sich eine äußerst stabil wirkende, wild gestikulierende Frau mittleren Alters, die lautstark seinen Namen rief.
Der sofafarbene Mischlings-Rudi tippelte freundlich schnüffelnd auf mich zu. Der Ruf: „Der tut nichts“ wirkte irgendwie überflüssig. Rudi schnüffelte kurz an meiner Hand, fand sie dann aber nicht so wahnsinnig spannend und tippelte weiter.
Dann stand sie vor mir.
Man wisse ja nie, er sei aus Rumänien aus dem Tierschutz und erst ein halbes Jahr bei ihr. Wir standen nur eine Armeslänge voneinander entfernt. Eigentlich gab es keinen Grund, mich so anzuschreien. Ihr Gesicht war freundlich, ihr Tonfall auch. Aber ihre Lautstärke grenzte an Körperverletzung.
Sie klärte mich darüber auf, dass Rudi oft sehr schreckhaft sei und sich unter die Couch zurückzöge, dass sie schon alles versucht habe, ihn an ihre Nähe zu gewöhnen und kurz davor sei zu verzweifeln. Es sei ja schon ein halbes Jahr vergangen.
Ich dachte: armer Rudi. Du scheinst ein entspannter Typ zu sein und steckst in einer richtig beschissenen Situation. Ständig auf der Flucht vor dieser erschreckend lauten und aufdringlichen Person. Und immer wenn du versuchst, dich zurückzuziehen, setzt sie dir nach. Das ist die Hölle.
Ich dachte an meinen eigenen Hund zurück. Sie hatte ein echt entspanntes Leben. Wenn es warm genug war, lag sie gerne draußen in der Sonne. Oder schnüffelte sich durch den Garten und die angrenzenden Felder. Sie hat gerne bis mittags geschlafen und lag im Winter jeden Abend auf meinem Bauch und schnarchte so erbärmlich, dass ich den Fernseher lauter stellen musste.
Rudi wird angeschrien. Ständig. Und ohne erkennbaren Grund.
Muss man eigentlich einer erwachsenen Frau erklären, dass Hunde sehr gut hören können? Wie hält ihr Mann das aus? Hat er sich daran gewöhnt oder ist er so abgestumpft? Oder vielleicht Taub? Letzteres konnte ich ausschließen. Er stand 2m seitlich und seiner Mimik konnte ich entnehmen, dass er jedes Wort von mir verstand. Ich sprach ruhig und leise in der Hoffnung, dass sich die resolute Dame meinem Tonfall anpassen würde. manchmal klappt das. Diesmal nicht.
Ich hörte mich Dinge sagen wie: „vielleicht braucht Rudi einfach viel Ruhe“ und „damit er von sich aus auf Sie zukommen kann“.
Sie sagte: „aber ich hab doch schon alles probiert und laufe ihm ständig hinterher“.
Ich sagte: „manchmal treten Wesen in das eigene Leben, damit man etwas lernt“.
Sie sagte: „ja, aber Geduld ist nicht meine Stärke“.
Ich sagte freundlich im Weggehen: „eben. Sie würden wahrscheinlich noch am Gras ziehen, damit es schneller wächst.“
Alle lachten kurz und ihr Mann verzog schmunzelnd mit einem Hauch von Bitterkeit sein Gesicht. Höchststrafe. Lebenslänglich.
Ich dachte: wer rettet Rudi?