Josh
Bitte beachten: Dieser Text ist von 1996.
Er war das, was man wohl als das perfekte Produkt bezeichnen würde: in jeder Hinsicht extrem, ohne ernst zunehmende Schwächen. Bis auf eine vielleicht: er war alles andere als natürlich. Jedoch muß man fairerweise zugeben, daß sich niemand mehr erinnern konnte was natürlich war, die Überlieferungen waren größtenteils vernichtet worden als damals versehentlich bei Bauarbeiten in der Nähe des Zentralgedächtnisses ein altertümliche Gerät bei seiner Detonation einen immensen elektromagnetischen Impuls auslöste. Wie auch immer, die Daten waren futsch.
Man sah sich genötigt ein neues Zeitalter auszurufen, was auch allseits freudig aufgenommen wurde. Es gab keinen mahnenden Zeigefinger mehr, der mit überalterten Idealen nervte, man war endlich frei. Ein völlig ungenierter, hemmungsloser Lebensstil machte sich breit. Flächendeckend setzte sich der völlige Individualismus durch, mit dem Erfolg, daß ein paar Jahre später Keiner mehr Keinen Verstand. Wenn sich tatsächlich noch Menschen begegneten, ich meine leibhaftig, körperlich sozusagen, also nicht virtuell, dann hatte es etwas schmuddeliges, peinliches und man vermied den Kontakt so gut es ging. Vom Hörensagen wußte man, daß es wohl Menschen gegeben hatte die sich ansahen, sich sogar berührten: widerlich. Ausschweifende Cyberorgien waren ja alltäglich, aber das !
Nein, das hatte etwas ernüchternd verbindliches, gar nichts von easy Fun ´n action.
Man lag also in seiner Liege den Helm auf dem Kopf und lebte. Ein wildes aufregendes Leben voller Erfolgsmomente und Glück, fernab jeglicher physischer Grenzen schwebte man durch unendliche Action-menüs, für jeden frei konfigurierbar, ohne jeden Zwang. Einfach Klasse. Es gab nur einen Wermutstropfen: ab und zu, wenn sich dieses leichte Zittern im Körper häufte, entzündete sich die Schnittstelle.
Da immer noch sehr viele aus Kostengründen einen Körper hatten, die Verpflanzung eines Stammhirnes in ein Servergehäuse kostete immer noch eine beachtliche Menge Spaßeinheiten, kam das gelegentlich vor. Dann half nichts mehr, außer Aufstehen.
So erging es auch Josh. Mitten im Anflug auf Erotica und der Vorfreude auf das gesamte Programm stürzte er ab. Scheisse! Er hatte lange auf die Zuteilung warten müssen. Nun gut: Helm ab, Kabel raus, - schöner war seine Liegezelle seit dem letzten Mal nicht geworden.
Dieses gewurschtel mit den übelriechenden Entsorgungsschläuchen in der Körpermitte war das Schlimmste daran, gefolgt von der intensiven Feststellung, das man immer noch einen Körper hatte und sich in erniedrigender Art und Weise mit dessen motorischer Koordination auseinander setzen muß. Gedacht, getan versuchte er aufzustehen. Gut, daß Orgas, die rote Hexe aus dem letzten Erotiktrip ihn jetzt nicht sehen konnte. Seine beklagenswert dünnen Beine trugen seinen schmächtigen Oberkörper nur unter größten Mühen. Ganz anders als jene athletischen Säulen aus dem Body-menü die sie so heiß machten. Eigentlich ging es aber doch ganz gut, es war ja auch erst das dritte Mal.
Plötzlich trat er auf etwas weiches, haariges was sich innerhalb der nächsten Sekunden als ausgesprochen widerwärtig erwies: eine fette Ratte hatte sich in seinen großen Zeh verbissen und starrte ihn genüßlich schmatzend an, während er versuchte sie durch wild kreiselnde Bewegungen abzuschütteln. Ein rasender Schmerz zuckte durch sein Gehirn, als die Ratte endlich ihren Biß lößte und zu Boden fiel. Das possierliche Nagetier trollte sich und entschwand eiligst seinen Blicken.
Er war überwältigt: Schmerz war ein großartiges Gefühl. Bislang hatte er immer die Option ´Schmerz ignorieren´ angewählt, das würde ihm nicht wieder passieren!
Seine Gedanken gingen weiter, jene Verfestigung eines Körperanhängsels welches sonst in einem der beiden Entsorgungsschläuche verschwand zählte durchaus nicht zu den unangenehmen Befindlichkeiten. Welch eine sensationelle Entdeckung. Wie konnte man dieses Erlebnis Anderen zugänglich machen? Würde man es noch intensivieren können? Würde er damit endlich `groß rauskommen´? Ein Star sein unter all den Vernetzten? Er war wild entschlossen seine Chance zu ergreifen und etwas ganz großes aufzuziehen !
Wohin hatte sich dieses liebenswerte kleine Miststück geflüchtet? Er begann zu suchen. Ein knackendes Geräusch und der jähe Schmerz sagten ihm, daß seine tastend suchende Hand unter der Liege erfolgreich war. Er riß den Arm zurück, packte mit der anderen Hand zu und war erstaunt über den verblüfften Blick des Kleinnagers als jener seinen Finger in die Freiheit entließ.
Auge in Auge mit diesem kleinen Wonnespender genoß er den Augenblick des Triumphes. Er würde es schaffen. Siedend heiß fiel ihm diese alte Maschine wieder ein mit der sie Lebensmittel geklont hatten, damals vor der Umstellung auf die Vollversorgung. Just in diesem Moment schlug die Ratte erneut zu: von Schreckensstarre keine Spur mehr, hieb sie ihre Nagezähne in die Kuppe seines Daumens. Er schrie auf, sank zu Boden und schluchzte, er war überwältigt, eine Welle der Lust schüttelte ihn.
Er entdeckte ein schleimiges Sekret auf seinem haarigen, blassen Oberschenkel und mußte erkennen, daß es wohl seiner eigenen Physis entsprungen war. Von dem Nager konnte es nicht stammen, den hatte er ja im Auge behalten. Diese Erkenntnis trübte seinen Genuß nur wenig, er gab sich unbeirrt. Wenngleich er das als ein ausgesprochen unappetitliches Detail einer ansonsten so lustvollen Situation erlebte.
Das Gefühl müßte noch stärker werden, dann würden solche Kleinigkeiten nicht mehr ins Gewicht fallen.
“Sie muß wachsen, größer werden, fester beißen” schoß ihm durch den Kopf. Aber wie? Die Maschine! Mit ihr war es möglich verschiedenste genetische Potentiale zusammenzufügen: Diese Ratte war so durch und durch aufregend und sinnlich, daß es ihm fast den Atem verschlug!
Er dagegen wog zirka fünfundsechzig Kilo, sein aufgeblähter Schädel erdrückte seinen weichen dürren Hals. `Wir sollten Eins sein!´ zischte es zwischen seinen zahnlosen Kiefern hervor und seine gierige Zunge leckte schlängelnd, silbrig wie ein Aal über das Fell seiner Liebsten. Hastig huschte er durch die Gänge bis er den richtigen Raum fand. Im Halbdunkel stand die Maschine, blaß beleuchtet. Er kannte sie aus einer Sequenz über veraltete Lebensweisen.
Andächtig begutachtete er das Gerät, setzte das eingeschüchterte Nagetier auf die eine Elektrode, sich auf die andere, küßte das Tier und schaltete ein.
Funken flogen, Rauch stieg auf, ein brüllender Orkan wirbelte durch sein Hirn, bedrückende Stille trat ein.
Klatschend klopfte der nackte, ledrige Rattenschwanz auf den Boden. Gebückt lauernd befühlte seine krallige Hand die immensen Nagezähne. Perfekt. Das hatte das Netz noch nicht erlebt. Er würde richtig große Gefühle machen können.